1918 – 2018: 100 Jahre Landesstreik

Die Armee überwacht die Streikenden auf dem Paradeplatz in Zürich

250'000 Arbeiterinnen und Arbeiter folgten 1918 dem Aufruf des Oltener Komitees und legten zwischen dem 12. und 14. November ihre Arbeit nieder. 2018 wird eine Reihe von Jubiläumsveranstaltungen an diesen wichtigsten Sozialkonflikt der neueren Zeitgeschichte der Schweiz erinnern.

Entfacht durch steigende Lebensmittelpreise und Provokationen durch die Armee, folgten die 250'000 Arbeiterinnen und Arbeiter dem Streikaufruf des Oltener Komitees. Dank der Mobilisierung durch die Eisenbahner drang der Streik bis in die entlegensten Ortschaften vor.

Forderungen, die Geschichte schrieben

Die Streikenden stellten neun Forderungen, die bis heute nachwirkten. Unter anderem forderten die Streikenden

  • das Frauenstimmrecht,
  • die Einführung einer Alters- und Invalidenversicherung
  • sowie eine Wochenarbeitszeit von 48 Stunden.

Drohungen und Repressionen

Die Drohungen des Bundesrats und Befürchtungen, dass die Situation in einen Bürgerkrieg ausarten könnte, veranlassten das Oltener Komitee am 14. November zum Streikabbruch. Es folgten massive Repressionen. In Grenchen wurden drei Streikende von der Armee getötet. Der Landesstreik wurde zuerst als Fehlschlag beurteilt. Die Zukunft sollte den Streikenden jedoch Recht geben: Viele ihrer Forderungen sind später verwirklicht worden.

Die Vorgängergewerkschaften der Unia im Landesstreik

SMUV, SBHV und VHTL, die Vorgängergewerkschaften der Unia, kämpften damals gemeinsam. Arbeiterinnen und Arbeiter aus den unterschiedlichsten gewerkschaftlichen Berufsgruppen nahmen aktiv am Landesstreik – oder Generalstreik, wie er auch genannt wird – teil. Der Historiker Adrian Zimmermann blickt auf die Ereignisse von November 1918 zurück.

Neben den Eisenbahnern, deren Beteiligung für die Wirksamkeit des Generalstreiks entscheidend war, bildeten die Vorgängergewerkschaften der heutigen Unia das Rückgrat der Landesstreikbewegung.


«Die Metall- und Uhrenarbeiter standen während des Kampfes überall in der vordersten Reihe. Unsere Vertrauensleute waren an den meisten Orten die Träger der lokalen Streikorganisation» steht im Jahresbericht 1918 des Schweizerischen Metall- und Uhrenarbeiterverband (SMUV), als der damals mit Abstand stärksten und am professionellsten geführten Gewerkschaft.

Die Holzarbeiter wollen den Kapitalismus stürzen

Zu den Kerntruppen der Streikbewegung gehörte auch der kleinere, aber organisatorisch schlagkräftige Holzarbeiterverband. Seine führenden Mitglieder verstanden sich als radikale Vorhut der Arbeiterbewegung. «Mit Riesenschritten marschiert das Proletariat seinem Ziel entgegen: dem Sturz der ganzen kapitalistischen Gesellschaft», schrieben die Holzarbeiter in ihrem Jahresbericht 1918/1919 – wie sich bald zeigen sollte, etwas gar optimistisch.

Die 48-Stundenwoche wird gesetzlich verankert

Den Metall-, Holz- und Textilgewerkschaften gelang es als ersten, auf vertraglicher Ebene die 48-Stundenwoche zu sichern. Sie wurde später gesetzlich eingeführt und war Haupterrungenschaft des Generalstreiks von 1918.

Starke Beteiligung aus dem Dienstleistungssektor

Die Bauarbeiter waren 1918 noch weniger stark organisiert als heute und auf vier verschiedene Verbände verteilt. Doch auch für ihre Mitglieder war die Teilnahme am Landesstreik eine Selbstverständlichkeit. Der gewerkschaftliche Aufschwung dieser Jahre erfasste auch viele Frauen und sogar Angestellte im Dienstleistungssektor – beides Gruppen, die zuvor gewerkschaftlich meist nur schwer ansprechbar gewesen waren.

«Heroischer Kampf»

Der Verband der Handels-, Transport- und Lebensmittelarbeiter (VHTL) führte in den Jahren um den Generalstreik wiederholt Streiks durch. Die Arbeitskämpfe beschränkten sich nicht nur auf die Kernbranche des VHTL, die Lebens- und Genussmittelindustrie, sie dehnten sich auch auf das Gastgewerbe und den Detailhandel aus. Der VHTL vermerkt in seinem Jahresbericht zum Landstreik, «dass so ziemlich alle Mitglieder diesen heroischen Kampf mitgemacht haben.»

Frauen an der Front

Die zu einem grossen Teil weiblichen Arbeiterinnen in der Textilindustrie, standen im November 1918 «in den vordersten Linien», wie in die Textilarbeiter-Zeitung am 25.11.1918 schrieb. «Habt Dank, ihr zehntausenden tapferen Kämpferinnen, euer herrliches Beispiel beseelt uns Männer mit neuer Kraft und höherem Mut! (…) Keiner von uns hat jemals ein Recht, über euch abschätzig zu urteilen, euch als mindere Kampfgenossen zu bewerten.»

Unterschiedliche regionale Beteiligung

In den Städten und Industrieregionen der deutschen Schweiz folgten praktisch alle dem Streikaufruf. In der Westschweiz hingegen nahmen nur die Arbeiterinnen und Arbeiter im Berner und Neuenburger Jura sowie in Genf aktiv am Generalstreik teil. Mit dem Tessin ergaben sich Kommunikationsprobleme. Trotzdem legten die meisten Eisenbahner und die Arbeiter des Stahlwerks Monteforno in Bodio sowie die Steinmetze in der Leventina ihre Arbeit nieder.

Texte: Adrian Zimmermann, historien, Delémont