«Meinen Vater würde ich nicht in diesem Pflegeheim unterbringen»

Die dramatischen Erlebnisse im Pflegeheim werden vielen Pflegenden zu viel.

«Ich sah, wie Menschen mutterseelenallein in einem Zimmer sterben mussten; wie man Bewohner:innen mitten in der Nacht weckte, um sie zu waschen, weil am Morgen das Personal dafür fehlte », das berichtet die Pflegeassistentin Lu. Die miserablen Arbeitsbedingungen in der Pflege haben nicht nur Auswirkungen auf das Personal, es sind vor allem die Bewohner:innen und Patient:innen, die leiden.

In weniger als zwei Wochen ist Frauenstreik. Pflegende in der ganzen Schweiz werden diesen Tag nutzen, um in ihren Betrieben oder auf der Strasse bessere Arbeitsbedingungen für diesen Beruf mit über 80 Prozent Frauenanteil zu fordern. Weshalb dies bitter nötig ist, erzählt Lu, eine Pflegeassistentin, im Interview mit unserer Zeitung Area. (Gekürzte Version, Original auf Italienisch).

Traumatische Erfahrungen

«Würden Sie Ihren Vater hier unterbringen?» Diese Frage stellte Lu dem Direktor des Altersheims, in dem sie damals arbeitete. Die Antwort war ein trockenes, unmissverständliches und dezidiertes «Nein.» Lu ist 41, Pflegeassistentin, hat zwei Kinder im Teenager-Alter und ist Grenzgängerin: «Es sollte keine provokative Frage sein. Ich wollte einfach wissen, ob die Person, die dieses Heim leitet, es für einen ihrer Angehörigen als geeignet erachtet. Denn meine Erfahrungen waren traumatisch. Die Behandlung der alten Menschen hat mich erschüttert und gezeichnet, bis hin zu dem Punkt, dass ich mich beruflich umorientieren musste.»

Berufswahl aus Überzeugung

Schon in jungen Jahren beginnt sich Lu für die Altenpflege zu interessieren:

«Mit 19 begann ich ein Pflegestudium an der Fachhochschule. Rasch merkte ich, dass ich lieber direkt ins Arbeitsleben einsteigen möchte und ich war der Meinung, dass ich durch die Praxis am besten lernen würde. Ich gab das Studium auf und fand im Tessin sofort eine Stelle in einem Altersheim, denn ich wollte mich um alte Menschen kümmern.»

Lu ist eine einfühlsame, entschlossene Frau, die ihren Beruf mit Überzeugung gewählt hat, im Wissen, dass sie dafür auch Opfer bringen muss. Im Gespräch zeigt sich Lu verbittert und wenn sie sich an gewisse Vorfälle erinnert, wird sie wütend:

«Ich arbeite nicht mehr in Pflegeheimen, denn meine letzten Erfahrungen haben mich gezeichnet: Ich sah, wie unmenschlich man Bewohner:innen behandelte, obwohl dabei die zwischenmenschlichen Beziehungen so wichtig wären. Ich hatte für die Pflege kaum Zeit, geschweige denn, für eine Beziehung zu den mir anvertrauten Personen. Ich kehrte deshalb jeweils mit einem unguten Gefühl nach Hause, war unzufrieden und frustriert: ich wollte nur noch weinen und mich ausheulen.»

Was genau lief denn nicht gut? Was war für dich das Schlimmste?

«Nach aussen wurde das Bild eines idyllischen Ortes vermittelt. Aber die Leitung des Pflegeheims in der Region Locarno zeigte sich nie bereit, die Arbeitsbedingungen und damit auch die Lebensqualität der Bewohner:innen zu verbessern. Die Angestellten und die Bewohner:innen waren Nummern, das Ziel war Profit. Ein Beispiel: Ich mass einem Mann die Temperatur und das Thermometer zeigte 38.5 Grad an. Trotz klarer Anweisungen des Kantonsarztes durfte ich keinen Coronatest machen, “um keine Panik zu schüren”. Sie hatten Angst, dass sie das Bistrot schliessen müssen, das auch für auswärtige Gäste geöffnet war und Einnahmen generierte. Ich finde das skrupellos. Es gab folglich auch keinerlei Schutzmassnahmen, wie z.B. die Isolation des Mannes.»

Du hast deine Arbeit dort Anfang 2020 angetreten, mitten in der Covid-Krise: War nicht die Pandemie das grosse Problem?

«Covid spielt keine Rolle. Die Probleme des Pflegepersonals existieren in allen Spitälern und medizinischen Einrichtungen seit Jahren und sind chronisch geworden. Die Pandemie mag sie verstärkt haben, aber die Situation wurde sicherlich instrumentalisiert, um sich zu rechtfertigen, denn die Unzulänglichkeiten und Probleme sind seit langem bekannt.»

Lu, du hast mehr als die Hälfte deines Berufslebens in Kontakt mit alten Leuten verbracht, sie betreut und tröstende Worte gespendet: Was hat dich in deinem neuen Arbeitsumfeld am meisten gestört?

«Wir befanden uns in der besonderen Situation der Pandemie und anfänglich beobachtete ich vor allem, was rund um mich geschah. Je mehr Zeit verging, desto unwohler fühlte ich mich: Mir wurde bewusst, dass ich in eine Maschinerie geraten war, deren Ziel die Profitmaximierung auf Kosten der Angestellten war. Dort wurden Einsparungen gemacht und systematisch Personalressourcen entzogen. Ich merkte, dass ich etwas tun musste: die Leute aufwecken und diesem System ein Ende bereiten.»

«Wir müssen die Menschen in den Mittelpunkt stellen.»

Als starke, entschlossene Frau mit Leadership-Qualitäten, involvierte Lu daraufhin ihre Kolleg:innen. Diese zeigten sich solidarisch und waren bereit, für die persönlichen Rechte zu kämpfen. Lu kontaktierte die Unia und die Gewerkschaft stand ihr in ihrem Kampf zur Seite. Gemeinsam verlangten sie ein Treffen mit der Direktion und es konnten gewisse Verbesserungen erzielt werden.

«Ich bin aber überzeugt, dass es an der Zeit ist, dass in Gesellschaft und Politik ein grundlegendes Umdenken stattfindet: Wir müssen mehr investieren und die Menschen in den Mittelpunkt stellen.», so Lu.

Denkst du dabei an etwas Bestimmtes? Welches Umdenken müsste stattfinden?

«Meine Berufserfahrung und die Schilderungen meiner Kolleg:innen zeigen mir, dass zwar auf die Einhaltung der formalen und technischen Vorgaben geachtet wird, jedoch weniger oder gar nicht auf die Lebensqualität der Bewohner:innen. Ausserdem gibt es keine Sterbebegleitung und dies in Einrichtungen, wo der Tod keine Ausnahme, sondern die Regel ist.  Solche Aspekte müssten vom Pflegepersonal abgedeckt werden können. Stattdessen habe ich mit eigenen Augen gesehen, und ich entschuldige mich für den starken Ausdruck, wie man manche Bewohner:innen hundsmiserabel sterben liess. Klar, die Pflegeleistungen wurden pflichtgemäss gemacht, aber die Bewohner:innen wurden allein in ihrem Zimmer ihrem Schicksal überlassen, ohne dass ihnen jemand die Hand gehalten oder sie mit Worten getröstet hätte. Ich war Zeugin, wie ungeschultes Personal versuchte, einen Menschen in seinen letzten Lebensstunden zu füttern: eine Szene, die mich noch immer schmerzt, denn jeder hat das Recht, in Würde zu sterben. Es bräuchte mehr Sorgfalt bei der Auswahl des Personals, stattdessen wird aber ohne grosse Formalitäten jede und jeder eingestellt.»

Welche weiteren Probleme verursachen die knappen finanziellen Ressourcen?

«Der Personalmangel ist ein Problem und hat auf mehreren Ebenen gravierende Auswirkungen. Ich gebe euch ein Beispiel eines Ereignisses, das mich noch immer beschäftigt: Um Einsparungen zu machen und den Arbeitsaufwand am Morgen um sieben Uhr zu verringern, sollten die Bewohner:innen mitten in der Nacht gewaschen werden. Wer in der dritten Schicht beschäftigt war, musste also sehr alte Menschen im Tiefschlaf um halb vier Uhr morgens wecken, um sie im Bett zu waschen. Ich weigerte mich, dieser Anordnung nachzukommen: “Das mache ich nicht, bezahlt mich nicht für diese Zeit, aber ich wecke niemanden mitten in der Nacht, um ihm oder ihr die Haare zu kämmen. Ich mache mich nicht zur Komplizin einer solcher Quälerei”. Das Problem wurde nie gelöst und die Praxis fortgesetzt. Man entband mich einfach von der Nachtschicht, damit ich nicht protestieren und Kolleg:innen beeinflussen konnte.»

Wie wirkte sich die frustrierende Arbeit auf die Mitarbeitenden aus?

«Es führte zu einem ständigen Personalwechsel, weil es viele nicht aushielten. Sie erschienen nicht mehr zur Arbeit und wer noch da war, musste auch ihre Schichten übernehmen, selbst wenn die betroffene Person einen Monat lang kein freies Wochenende mehr hatte. Es bedeutete auch, seine persönliche Zeit zu investieren, um Aufgaben zu erledigen. Ich erinnere mich noch, wie eine Animateurin wegen Burnout krankgeschrieben wurde: Ich und andere Kolleg:innen sorgten am Ende unserer Schichten dafür, dass das Animationsprogramm fortgesetzt wurde, ohne Bezahlung.»

Kündigung als letzter Ausweg

Für Lu wurde es zu viel, sie war menschlich überfordert, konnte die Missstände nicht länger ertragen und die Not ihrer Kolleg:innen nicht mehr länger sehen. Auch sie selbst war betroffen:

«Ich verdiente 4800 Franken und arbeitete 4 Tage die Woche: Der Lohn war gut für mich, aber ich spürte immer den Druck in mir. Es war auch familiär eine heikle Zeit, meine Schwester war krank und hatte zwei kleine Kinder zu versorgen. Ich hielt zwei Jahre durch, dann musste ich gehen. Bei diesem Arbeitstempo und dem Druck wäre die Alternative gewesen, meine Familie nicht mehr zu sehen oder in eine Depression zu verfallen.»

Eine gute Pflege ist eine Frage der Organisation

Lu liebt die Arbeit mit alten Menschen: die Pflegeassistentin arbeitet seit September 2022 in Locarno für eine Spitex-Firma.

«Eine ganz andere Art zu arbeiten, ich lebe wieder auf. Es ist eine Frage der Organisation: Es gibt einen Arbeits- und einen Zeitplan, die eingehalten werden, so dass man nie zeitlich überlastet ist und sich vor allem bestmöglich den Patient:innen widmen kann. Als ich eine Dame so duschen durfte, wie es die Richtlinien vorgeben, war ich gerührt».