Hobby-Epidemiologie der Arbeitgeberverbände. Für eine Strategie der Solidarität

Seit einem Jahr kämpft die Welt darum, die Zahl der Covid-Ansteckungen und Toten nicht explodieren zu lassen. Doch jetzt naht offenbar Rettung. Die Hobby-Epidemiologen von economiesuisse haben einen «Paradigmenwechsel» in «vier Phasen» ausgeheckt. Ein klassischer Fall von Wunschdenken.

Die Wirtschaftsverbände meinen, den Stein der Weisen entdeckt zu haben. Unter dem Titel «Wieder mehr Eigenverantwortung!» veröffentlichten sie gestern Sonntag ihre Exit-Strategie aus der Covid-19-Pandemie: Bereits am 1. März seien erste Lockerungen zu beschliessen. Sobald die Risikogruppen geimpft seien, solle die Home-Office-Empfehlung gelockert und stärker auf «Selbstverantwortung» gesetzt werden. Wenn Impfstoffe für alle verfügbar seien, könnten Anlässe ohne Schutzkonzepte durchgeführt werden. Und schliesslich, wenn «Herdenimmunität» bestehe, seien die verbliebenen Restriktionen aufzuheben.

Die Viren werden sich von «mehr Eigenverantwortung» kaum beeindrucken lassen. Der Bundesrat hoffentlich auch nicht. Er tut besser daran, die Pandemiebekämpfung auf der Basis gesicherter wissenschaftlicher Erkenntnisse zu organisieren. Es braucht keine weitere Welle mit Tausenden von vermeidbaren Toten, um das sicherzustellen. Die Lobbyisten von Economiesuisse haben mit ihrem Schlachtruf «Nie wieder Lockdown» im letzten Herbst schon einmal die rechtzeitige Eindämmung der «zweiten Welle» behindert. Das darf sich nicht weiderholen.

Gesundheitsschutz am Arbeitsplatz stärken

Der «Eigenverantwortungs-Plan» will die Unternehmen von der Pflicht befreien, für die Umsetzung der Pandemiemassnahmen am Arbeitsplatz zu sorgen. Damit würde auch der dringend nötige Schutz der besonders gefährdeten Arbeitnehmenden geschwächt und Tausende, die heute von der Arbeit freigestellt sind, unabsehbaren Gesundheitsrisiken ausgesetzt. Das ist inakzeptabel.

Die Gesundheitsschutz-Massnahmen am Arbeitsplatz dürfen keinesfalls gelockert werden. Sie müssen vielmehr verstärkt, besser kontrolliert und seriöser durchgesetzt werden, so wie es die Unia seit Beginn der Pandemie von den zuständigen Behörden fordert.

Konkret heisst das:

  • Der Schutz der besonders gefährdeten Arbeitnehmenden muss bestehen bleiben.
  • Die Homeoffice-Pflicht ist beizubehalten.
  • Alle Betriebe weisen ein Schutzkonzept aus. Dazu werden das Personal und ihre gewerkschaftliche Vertretung vorgängig angehört
  • Es braucht endlich mehr Kontrollen zur Durchsetzung des Gesundheitsschutzes. Weil die Kantone und die Suva zu wenig Ressourcen haben, müssen die Kontrollorgane der Sozialpartner mehr Aufgaben übernehmen.

Soziale Spaltung verhindern

Mehr strategische Perspektiven muss der Bundesrat bieten, wenn es um die Bewältigung der sozialen Folgen der Pandemie geht. Denn sie trifft einzelne Branchen und ihre Beschäftigten sowie wenigverdienende Arbeitnehmende und prekäre Bevölkerungsgruppen übermässig hart. Wenn Regierung und Parlament nicht entschiedenere Massnahmen ergreifen, droht die Pandemie die soziale Ungleichheit massiv zu verstärken und die gesellschaftliche Solidarität zu untergraben.

Es braucht eine Strategie der Solidarität. Konkret verlangen wir, dass sich der Bundesrat endlich zu den folgenden Zielen bekennt:

  • 100% Lohnersatz bei Kurzarbeit bis zu einem Nettolohn von 5’000 Franken für alle Arbeitnehmenden und Verlängerung auf 24 Monate
  • Verlängerung der ALV-Bezugsberechtigung, um eine pandemiebedingte Zunahme der Aussteuerungen zu vermeiden
  • Keine Nachteile beim Bezug von Sozialhilfe unabhängig vom Aufenthaltsstatus
  • Plafonierung der A-fonds-perdu-Beiträge pro Betrieb (und nicht pro Unternehmen) um Arbeitsplatzverluste zu verhindern